Gründe, warum ein Stopp der von der Ukraine und Russland aus gelieferten IT-Dienste den Westen digital lahmlegen könnte

Es gibt Bedenken hinsichtlich der Energiepreise und -versorgung, wenn Russland in die Ukraine einmarschiert, aber ist die Tatsache, dass fast jedes europäische Unternehmen auf ukrainische Softwareentwickler angewiesen ist, ein ebenso großes Problem?

IT OutsourcingUPDATED ON März 22, 2022

John Adam K&C head of marketing

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Cover image for blog on topic of how Ukraine Russia tensions could impact IT services exports Western organisations rely on

Was die am unmittelbarsten spürbaren Folgen für Europa und den Westen betrifft, wenn die Spannungen zwischen der Ukraine und Russland sich zuspitzen und in einem Krieg enden, standen bisher vor allem die Kraftstoffkosten sowie die Versorgung im Mittelpunkt. Was jedoch nicht erwähnt wurde, ist, wie sehr der Westen auf IT-Dienstleistungen angewiesen ist, die aus der Ukraine und Russland geliefert werden.

Direkt oder indirekt – über Anbieter von IT-Outsourcing-Dienstleistungen sind praktisch alle großen Unternehmen in Westeuropa sowie viele in den USA auf Softwareentwickler und andere IT-Spezialisten aus der Ukraine angewiesen. Außerdem arbeiten viele Unternehmen mit Fachkräften aus Russland zusammen.

Sollte Russland in die Ukraine einmarschieren, hätte dies unweigerlich Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit der IT-Spezialisten des Unternehmens, sofern, wie zu erwarten, die Internetverbindung unterbrochen werden würde.

Was passiert mit der globalen digitalen Wirtschaft, wenn Hunderttausende von IT-Spezialisten, auf die sich Unternehmen im Westen täglich verlassen, plötzlich offline sind? Oder aufgrund von Sanktionen nicht mehr bezahlt werden können?

Was passiert mit den wirtschaftlich wichtigen, manchmal kritischen neuen Anwendungen, die von ihnen entwickelt werden. Was passiert mit den Anwendungen, die derzeit von Kunden oder internen Mitarbeitern genutzt werden und von ihnen betreut werden?  Und was passiert mit der digitalen Infrastruktur, die viele von ihnen am Laufen halten?

Das ist eine große und offene Frage, auf die kein namhafter Politiker oder Wirtschaftsvertreter eingegangen ist. Zumindest nicht in der breiten Öffentlichkeit.

Wir haben mit ukrainischen IT-Outsourcing-Unternehmen gesprochen und sie befragt:

  • Bereiten Sie sich auf den schlimmsten Fall vor, und wenn ja, welche Maßnahmen haben Sie getroffen?
  • Sind Ihre internationalen Kunden besorgt und welche Pläne haben sie für den Fall, dass ihre wichtigen Entwickler und sonstigen IT-Experten für einen unbestimmten Zeitraum nicht arbeiten können?
  • Ist die Zahl der westeuropäischen, amerikanischen und anderen internationalen Organisationen, die IT-Fachkräfte aus der Ukraine rekrutieren wollen, merklich zurückgegangen?

Wir sprachen mit:

 Michael Krusche, CEO & Gründer von K&C (around 30% of our specialists are based in Ukraine)

Dmitry Ivanov, Head of Marketing Department bei Elinext

Max Klimenko, Key Clients Manager bei SPD Ukraine, und;

Eugene Odyntsov, CMO, SPD Load

1. Bereiten Sie sich auf den schlimmsten Fall vor, und wenn ja, welche Maßnahmen haben Sie getroffen?

Michael Krusche (K&C): „Die Sicherstellung der Business Contingency ist essentieller Bestandteil unserer Kundenbeziehung, daher arbeiten wir bereits mit Vertragsunterzeichnung an einem Fallback-Plan. Neben derartigen kritischen Ereignissen hat uns ja bereits COVID gezeigt, wie wichtig hier das Risiko-Management ist.“

„Bei größeren Projekten setzen wir daher auf verteilte Standorte, und einer sicheren – in Deutschland gehosteten – Infrastruktur.“

„Unsere Mitarbeiter können zudem jederzeit an jedem Standort arbeiten. Entweder in unseren Büros wie in Krakau oder Sofia, oder remote.“

„Doch neben all den Plänen und prozessualen Lösungen ist vor allem eines wichtig, eine transparente und ehrliche Kommunikation mit unseren Kunden und Mitarbeitern.“

Dmitry Ivanov (Elinext): „Die meisten unserer Projekte werden von internationalen Teams mit ukrainischen, aber auch anderen Mitgliedern aus Ländern wie Belarus und Deutschland entwickelt. Die Kunden sind vor allem an den technischen Fähigkeiten der Teams interessiert, die für sie arbeiten, und weniger am Standort der einzelnen Teammitglieder. Obwohl es im schlimmsten Fall unweigerlich zu Unterbrechungen kommen würde, hat kein Kunde nach einem Notfallplan gefragt, denn es wird davon ausgegangen, dass jegliche Probleme lediglich vorübergehend sein werden.“

Max Klimenko (SPD Ukraine): „Unser Unternehmen bietet Standortwechsel in der Ukraine an, von einer Stadt in eine andere, nach Lwiw (Lemberg). Das liegt im Westen der Ukraine, in der Nähe von Polen. Allerdings ziehe ich es vor, in ein anderes Land umzusiedeln. Ich komme zum Beispiel aus Charkow, das liegt in der Nähe von Donezk und Luhansk, daher bin ich dabei, noch diesen Monat nach Georgien umzuziehen. Das ist eine kurzfristige Entscheidung gewesen.”

Eugene Odyntsov (SPD Load): „In erster Linie geht es darum, die Investition zu schützen. Wir kümmern uns um die Erstellung von Code-Kopien sowie andere Dinge, um die Sicherheit zu gewährleisten. Das Gleiche gilt für unsere bestehenden Kunden, so dass selbst bei einer eventuellen Systemunterbrechung kein größeres Risiko für laufende Projekte besteht.”

„Ich kenne viele Technologieunternehmen, die ein Büro in der Ukraine haben, und derzeit einen Plan zur Verlagerung des Büros nach Polen ausarbeiten. Das Unternehmensumfeld ist traditionell pragmatisch. Anstatt in Panik zu verfallen, erwägen sowohl Kunden als auch Arbeitgeber realistische Optionen, um ihren Betrieb fortzuführen.”

2. Sind Ihre internationalen Kunden besorgt und welche Pläne haben sie für den Fall, dass ihre wichtigen Entwickler und sonstigen IT-Experten für einen unbestimmten Zeitraum nicht arbeiten können?

Michael Krusche (K&C):“Diese Fragen werden natürlich gestellt. Wir unterstützen unsere Kunden in den geschäftskritischen Bereichen, wo ein längerer Ausfall der Wartung aber auch der Weiterentwicklung nicht akzeptierbar ist.“

Dmitry Ivanov (Elinext): „Die Erfahrungen, die wir kürzlich in einer ähnlich komplizierten Situation in Weißrussland machen konnten, zeigen, dass ein gut ausgearbeiteter Vertrag ausreicht, um den Kunden zu beruhigen und ihn vor unvorhergesehenen Umständen zu schützen.“

Max Klimenko (SPD Ukraine): „Bestehende Kunden und Partner fragen uns, was wir im Falle eines groß angelegten Angriffs zu tun gedenken. Ob wir Pläne für eine Verlagerung usw. haben? In einigen Fällen bieten sie uns ihre Hilfe an. Sie kündigen keine Verträge oder verkleinern unsere Teams, also alles in Ordnung.“

3. Ist die Zahl der westeuropäischen, amerikanischen und anderen internationalen Organisationen, die IT-Fachkräfte aus der Ukraine rekrutieren wollen, merklich zurückgegangen?

Michael Krusche (K&C): „Nein, nicht wirklich, allerdings haben wir mehrere Nearshore-Standorte, nicht nur in der Ukraine, so dass die geopolitische Lage dort nicht im Mittelpunkt unserer Kommunikation steht. Trotzdem haben sich unsere Kunden in den letzten Wochen auch für von uns vorgeschlagene Entwickler aus der Ukraine entschieden. Dabei ging es ihnen in erster Linie darum, die bestmögliche Person für ihr Team zu finden.“

Dmitry Ivanov (Elinext): „Nein, wir haben bisher keine offensichtlichen Veränderungen bei den Anfragen festgestellt.“

Eugene Odyntsov (SPD Load): „Wir arbeiten mit internationalen Partnern aus der ganzen Welt. Im Wesentlichen sind das wirtschaftlich entwickelte Länder: USA, Großbritannien, Deutschland, die Vereinigten Arabischen Emirate und auch Singapur.“

„Wenn wir über die Bereitschaft sprechen, mit ukrainischen Teams zusammenzuarbeiten, bleibt die Nachfrage unverändert. Ich denke, das hat mit dem Ruf unseres Landes und den lokalen Teams zu tun.“

Die Tatsache, dass die Nachfrage nach ukrainischen IT-Spezialisten trotz der Gefahr eines Krieges, der ihre Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt, nicht zurückgeht, zeigt, wie abhängig westliche Arbeitgeber von Nearshore-Software-Entwicklungstalenten, insbesondere aus der Ukraine, sind. Nur Polen exportiert mehr IT-Dienstleistungen in den Westen als die Ukraine.

Wie abhängig sind westliche Unternehmen und Volkswirtschaften von ukrainischen und russischen IT-Dienstleistungen?

 In der Ukraine gibt es schätzungsweise 285.000 IT-Fachkräfte, darunter Softwareentwickler, Cloud-Computing-Experten und Ingenieure für digitale Infastrukturen. In ganz Russland sind es über 1,5 Millionen. Von den in der Ukraine tätigen Fachkräften arbeitet die Mehrheit für internationale Unternehmen, entweder als Auftragnehmer oder als Angestellte. 60 % arbeiten für IT-Outsourcing-Unternehmen, die ihre Dienstleistungen an Kunden im Westen verkaufen.

Andere arbeiten in den mehr als 100 Forschungs- und Entwicklungszentren multinationaler Tech-Giganten wie Microsoft, Ericsson, Siemens und Oracle, die in der Ukraine ansässig sind. Das Land ist auch die Heimat internationaler Start-ups und Technologieunternehmen wie GitLab, Grammarly oder Template Monster.

Viele von ihnen arbeiten ebenfalls in Russland, allerdings eher als Auftragnehmer oder Freiberufler statt als Angestellte.

Die ukrainischen IT-Exporte haben sich innerhalb von drei Jahren verdoppelt und haben einen offiziellen Wert von 6,8 Mrd. USD und tragen doppelt so viel zum BIP des Landes bei wie das russische Gastransportsystem auf ukrainischem Gebiet. Bis zum Jahr 2025 soll der Sektor einen geschätzten Wert von 12,7 bis 16,3 Milliarden USD erreichen.

Chart showing value and predicted value of Ukrainian IT services exports between 2018 and 2025

Quelle: Ukraine IT Report 2021

IT-Outsourcing ist in Industrienationen wie Deutschland ein wichtiger Wirtschaftszweig geworden, weshalb viele IT-Outsourcing-Anbieter in der Ukraine Softwareentwickler und andere IT-Fachkräfte beschäftigen. Der deutsche Markt, immerhin das Land mit der größten Volkswirtschaft Europas, hatte im Jahr 2021 einen Wert von 19,03 Milliarden USD.

Schätzungsweise 20 % bis 30 % dieser riesigen Summe, die von in Deutschland ansässigen IT-Outsourcern erwirtschaftet wird, ist das Ergebnis der Arbeit von ukrainischen IT-Fachkräften. Viele Outsourcing-Unternehmen beschäftigen zudem russische Mitarbeiter, deren Bezahlung zu einem Problem werden könnte, wenn gegen das Land internationale Sanktionen verhängt würden.

Marktumsatz mit IT-Outsourcing-Dienstleistungen in Deutschland von 2016 bis 2021 (in Milliarden US-Dollar)

Chart showing IT-outsourcing services market revenue in Germany from 2016 to 2021 (in billion U.S. Dollars)

Quelle: Statista

Der offiziell bezifferte Wert der russischen Exporte von IT-Dienstleistungen liegt bei 5,1 Mrd. USD, wobei der tatsächliche Wert wahrscheinlich wesentlich höher ist, da viele russische IT-Spezialisten als Freiberufler für internationale Organisationen arbeiten, was für die nationalen Statistikämter schwieriger zu erfassen ist.

Exportwert von Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT)-Dienstleistungen in Russland von 2008 bis 2020, nach Art (in Millionen US-Dollar)

Chart showing export value of information and communications technology (ICT) services in Russia from 2008 to 2020, by type(in million U.S. dollars)

Quelle: Statista

Anzahl der Informationstechnologie (IT) Fachkräfte in Russland im Jahr 2020, nach Beruf (in 1.000er)

Chart showing number of information technology (IT) specialists in Russia in 2020, by position(in 1,000s)

Wenn Russland in die Ukraine einmarschieren sollte, bedeutet das ein großes Problem für die digitale Wirtschaft des Westens

 Tatsächlich gibt es nur sehr wenige große westeuropäische Unternehmen, die nicht mehr oder weniger auf ukrainische IT-Fachkräfte angewiesen sind. Darüber hinaus gibt es Tausende von neu gegründeten Tech-StartUps und KMU, die zumindest in gewissem Umfang ebenfalls auf ukrainische IT-Spezialisten zurückgreifen müssen. Auch in den USA und andernorts sind viele Unternehmen betroffen.

Sollte die Internetverbindung für eine gewisse Zeit unterbrochen werden oder sollten ukrainische Fachkräfte aus anderen Gründen nicht in der Lage sein, an Projekten für internationale Kunden zu arbeiten, wäre dies ein Problem. Für manche Organisationen mehr als für andere.

Die meisten würden kurzfristig einen Weg finden, damit umzugehen, aber der Verlust ukrainischer und russischer IT-Mitarbeiter würde neue Projekte stören und verzögern, was Geld kostet. Live-Anwendungen, auf deren Betreuung durch ukrainische Experten sich Nutzer und Unternehmen verlassen, könnten ein größeres Problem darstellen. Der Ausfall ließe sich allerdings wahrscheinlich durch Umschichtung interner Ressourcen bewältigen.

Am Ende dürfte sich niemand über ein solches Ergebnis freuen, denn sollte sich die Situation weiter hinziehen, wäre dies ein großes Problem für das ohnehin schon enge Angebot an qualifizierten, erstklassigen IT-Spezialisten. Doch hoffen wir, dass dies nicht ein Problem ist, mit dem wir alle konfrontiert werden, insbesondere unsere Kollegen aus der Ukraine.